Warum der Großelterndienst ein Modell für die Zukunft ist.

„Großelterndienst“ – das klingt nach Dienstleistung, nach Vorschriften und nach dem Versuch, eine Beziehung künstlich zu erzeugen, die doch nur zwischen leiblichen Enkeln und Großeltern bestehen kann. Aber das Angebot stößt bereits auf großen Zuspruch, auch in der thüringischen Landeshauptstadt. Ich will wissen, was das wirklich ist, der „Großelterndienst“, wer sind die Menschen, die diesen Dienst nutzen? Wie läuft das Prozedere ab? Was sagt sein Vorhandensein über unsere Zeit aus? Vor allem aber: Können durch ihn tatsächlich nachhaltige, zwischenmenschliche Beziehungen entstehen?

Ich treffe Rainer Hosak in einem Drive-Inn im Erfurter Süden. Er ist Ende sechzig und seit drei Jahren pensioniert. Ganz in sich ruhend sitzt er da und harrt bei einer Tasse guten Kaffees meiner Fragen. Statt seinen nach 33 Berufsjahren als Oberamtsrat im Thüringer Innenministerium wohlverdienten Ruhestand auf der Couch zu genießen, geht er beinahe täglich los und macht etwas. Gerade im Frühjahr war er sehr eingespannt, denn er ist in seinem Viertel für die Durchführung von Wahlen zuständig. Bei der Bundestagswahl gab es da ganz schön zu tun, sagt er. „Ohne die Ehrenamtler könnten in Deutschland gar keine Wahlen stattfinden.“ Aber nun wird es diesbezüglich ja hoffentlich erst einmal ruhig bleiben. Mehrmals in der Woche fährt er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln an Erfurter Schulen, um aktuell fünf Kindern ehrenamtlich beim Lesenlernen zu helfen. Er ist nicht nur Mitglied im Verein Mentor – Die Leselernhelfer Mittelthüringen e.V., der sich um die Vermittlung zwischen Schulen und Leselernhelfern kümmert, er wirkt auch in dessen Vorstand mit.

Und dann gibt es in der Woche noch einen ganz besonderen Termin. Am Donnerstag fährt Herr Hosak zu einer Schule, um einen zehnjährigen Jungen abzuholen – „meinen Wahlenkel“, wie er sagt. „Manche sagen auch ‚Wunschenkel‘, aber da meine leiblichen Enkel auch meine Wunschenkel sind, nenne ich den Jungen meinen ‚Wahlenkel‘.“ Als er davon erzählt, leuchten seine Augen, denn der Kleine ist ihm in den vergangenen drei Jahren sichtlich ans Herz gewachsen. Er begleitet ihn zum Basketball oder in die Malschule, gerne auch mal in die Kinder- und Jugendbibliothek der Stadt, um zusammen in Büchern zu schmökern. Die vier bis fünf Stunden genießen beide in vollen Zügen und freuen sich am Ende des Treffens auf die nächste Woche.

Ist diese besondere Freundschaft zustande gekommen, weil Herr Hosak keine Enkel oder weil der Junge keine Großeltern hat? Keineswegs, es gibt zwei leibliche Enkel, die er ebenfalls sehr liebt, die allerdings weit weg leben. Und der Junge hat leibliche Großeltern, aber auch die leben nicht in Erfurt. Eines Tages, so Hosak, sprach ihn eine Bekannte an, ob er sich nicht vorstellen könne, im Großelterndienst Erfurt e.V. tätig zu werden. Erst seit 2013 handelt es sich dabei in Erfurt um einen eingetragenen Verein, vorher bestand dieser in freier Form, wie mir Frau Hoyme, Leiterin des Großelterndienstes, am Telefon erzählt. Herr Hosak folgte der Empfehlung. Die Auswahl an „Wahlenkeln“ sei groß gewesen, sagt er. Viele Eltern melden sich inzwischen beim Verein, um das Angebot zu nutzen, nicht wenige von ihnen leben in schwierigen Situationen. „Alleinerziehende haben eine hohe Belastung“, hat er beobachtet. Für die Vermittlung zahlen die Eltern aktuell übrigens eine einmalige Gebühr. Hinzu kommen Kommunikationskosten und eine Jahresgebühr. Die Wunschgroßeltern erhalten von den Eltern eine Aufwandsentschädigung, zahlen zugleich aber auch einen Mitgliedsbeitrag an den Verein. Aktuell gibt es etwa 40 Vermittlungen, sagt Frau Hoyme, 70 aktive Großeltern, viele Freunde und Förderer.

„Ermöglichen Sie Ihren Kindern die beglückende Erfahrung einer zusätzlichen liebevollen Beziehung“, ruft der Großelterndienst Erfurt e.V. auf seiner Webseite auf. Und so versteht Hosak sein Amt auch inzwischen: Es ist eine zusätzliche Beziehung. Er sieht sich nicht als Ersatz, sondern als Bereicherung, so wie sein Wahlenkel auch für ihn eine Bereicherung ist. Die leiblichen Großeltern, die sich rührend um den Jungen kümmern, kenne und möge er, „aber die können eben leider nicht ad hoc zur Verfügung stehen“. Das Verhältnis zu ihnen und den Eltern seines Wahlenkels sei sogar familienähnlich. Übrigens hatte der damals siebenjährige beim Kennenlernen nicht wenige Fragen notiert, die er von seinem „Wahlopa“ beantwortet haben wollte – ob er verheiratet sei, warum er sich ein Enkelkind wünsche. Die habe er dem Jungen gerne beantwortet. Letztlich war es dann „Sympathie auf den ersten Blick“, erzählt Hosak. So läuft es allerdings nicht immer.

Ursula Geier lädt mich zu sich nach Hause ein. Auf ihrem idyllischen Balkon erzählt mir die 70-jährige ehemalige Buchhalterin von ihren Erfahrungen. Bei ihr hat es erst beim dritten Anlauf „Klick“ gemacht. Ihr Wunschenkel war zwei Jahre alt, als sie ihn kennenlernte. Inzwischen kümmert sie sich seit über einem Jahr um ihn. Von dem Großelterndienst hat Frau Geier durch das Gemeindeblatt der Andreasgemeinde erfahren und hatte direkt das Gefühl, dass das etwas für sie wäre. Die eigene Enkeltochter, mit der sie immer sehr gerne Zeit verbracht hat, lebt weit weg. Die ruhigen Stunden auf dem Balkon oder im Wohnzimmer, wenn klassische Musik läuft, weiß sie sehr zu schätzen. Aber ähnlich wie Herr Hosak möchte sie aktiv sein, deshalb macht sie Sport, arbeitet ehrenamtlich in der Telefonseelsorge, geht montags zum Kirchenchor und dienstags wartet eben ihr kleiner Wunschenkel in der Kindertagesstätte darauf, von ihr abgeholt zu werden.

Schon zu Beginn, erzählt sie, habe der Kleine vier Strophen eines Liedes auswendig gesungen und sie damit beeindruckt. Da das Singen ihre eigene Leidenschaft ist, hat sie ihn gefragt, ob er im Kinderchor singen möchte. Nun geht sie regelmäßig mit ihm dorthin. Sie schenkt ihm das, was seinen – wie auch den meisten anderen – Eltern oftmals im Alltag fehlt: Zeit. Wenn er beim Spazierengehen seine kleinen Füße in die Gera stecken möchte, dann begleitet sie ihn dabei. Auch größere Ausflüge gehören dazu, so ist sie bereits mit dem Jungen Seilbahn gefahren. Die leibliche Großmutter von Frau Geiers Wunschenkel ist nicht mehr so mobil wie sie. Dennoch ist diese die „Oma“ und Frau Geier ist „Oma Uschi“. Es gibt keine Konkurrenz – im Gegenteil. Wie Herr Hosak wurde auch Frau Geier herzlich in der Familie ihres Wunschenkels aufgenommen und wird zu Familienfesten etc. eingeladen. Da ihr das Miteinander mit der Familie so gut gefällt, kann sich Frau Geier sogar vorstellen, sich auch noch dem kleinen Bruder ihres Wunschenkels so zu widmen wie ihm.

Herr Hosak bezeichnet das Kennenlernen seines Wahlenkels als „glückliche Fügung“. Der nennt ihn inzwischen „Opa“ und verlangt ihm seinerseits einiges ab. „Die ganz Kleinen fragen, ob es den Osterhasen gibt. Da muss man feinfühlig, aber auch ehrlich sein, sonst wird man schnell unglaubwürdig. Ich antworte dann, ich hätte noch keinen Osterhasen gesehen“, führt Hosak aus. Mit seinem Wahlenkel rede er sehr offen. Wenn es um Gott geht, versuche er, seine eigene Meinung zurückzuhalten und ihm Freiraum für das Selbstdenken zu geben. Zeit und Raum geben – das erinnert mich an Frau Geier, die ihren kleinen Wunschenkel einfach ins flache Wasser gehen lässt, ihn begleitet, ohne ihn zu lenken oder anzuhalten. Das Verhältnis ist derzeit sehr eng – wie bei Herrn Hosak und seinem Wahlenkel. Er ist sich klar darüber, dass der Junge irgendwann auch andere Interessen entwickeln wird. Er würde sich aber zumindest wünschen, dass der Kontakt bleiben und er als ehrlicher Ansprechpartner in Erinnerung bleiben wird, der ihn geliebt hat.

Durch einen Zufall erfahre ich, dass der Dienst sogar schon in meinem eigenen Freundeskreis in Anspruch genommen wurde. Eine meiner besten Freundinnen hat 2012 beim Großelterndienst Erfurt angefragt. Damals war ihre Tochter Paula vier Jahre alt. Die eigenen Großeltern leben auch in diesem Fall weiter weg. Und nun berichtet mir Paula, die inzwischen 17 Jahre alt ist: „Nach ein bisschen Recherche und einem Telefonat fand schon das erste Gespräch mit Frau Hoyme statt. Bei diesem wurde ein Fragebogen ausgefüllt, um festzustellen, wer am besten zu uns passen würde. Nach einem Dreivierteljahr meldete man sich dann bei uns. Wir haben uns in den Räumlichkeiten des Großelterndienstes getroffen und sofort gut verstanden“, schreibt Paula, versehen mit einem Smiley.

So wie Frau Geier und Herr Hosak habe auch ihre „Oma Betty“ sie immer an einem festen Tag in der Woche vom Kindergarten und später dann aus der Grundschule abgeholt. „Jedes Mal hatte sie etwas, was ich gerne mochte, vom Bäcker dabei. Oft Quarkbällchen. Dann waren wir meistens Eis essen, schwimmen, im Park spazieren, im Zoo, bei ihr zu Hause oder bei uns und haben gemalt, gespielt oder sie hat mir vorgelesen. Auch auf dem Rummel oder im Jumphouse waren wir manchmal.“ Auch hier war das gute Verhältnis zu den Eltern gegeben, so hat Paula mitunter auch am Wochenende etwas mit ihren Eltern und Oma Betty zusammen unternommen. „Wenn ich an die Zeit mit Betty zurückdenke, werde ich wirklich nostalgisch. Mit ihr hat es sich immer alles ganz leicht angefühlt. Nichts war komisch oder langweilig. Ich weiß noch, wie sehr ich mich gefreut habe, wenn ich wusste, dass Betty mich von der Schule abholt. Die Nachmittage mit ihr waren wie eine kleine Auszeit, ein ‚Special Event‘, sozusagen.“

Bald ist Paula erwachsen. Heute sieht sie ihre Oma Betty nur noch bei Familienfeiern und besonderen Anlässen. Was ist geblieben, außer der Erinnerung an die „Special Events“? Sie schreibt: „Ich liebe ihre fröhliche Art und bewundere es, wie sie es immer geschafft hat bzw. immer noch schafft, mir ein geborgenes und sicheres Gefühl zu geben.“ Und: „Ich bin sehr dankbar, dass ich einige meiner wichtigsten Jahre mit Oma Betty verbringen konnte und sie auch heute, wenn auch nicht mehr so oft, noch an meiner Seite ist.“

Nach den Gesprächen mit den drei Beteiligten bleibt ein überraschend wohliges Gefühl zurück. Wenngleich der Großelterndienst ein Konstrukt bleibt, etwas künstlich Geschaffenes, so scheint er genau den sozialen Rahmen zu bieten, den die Gesellschaft aktuell benötigt. Er liefert zumindest eine Antwort auf die Frage: Was können wir tun, wenn Oma und Opa nicht (mehr) da sind und wir trotzdem die besondere Beziehung zwischen den Generationen pflegen wollen?

Auf der einen Seite sind da die Kinder, die heute genauso ihre Großeltern brauchen wie früher. Auf der anderen Seite sind da ältere Menschen, die der Hektik des Alltags meistens schon entkommen sind und Kapazitäten haben – zeitlich und emotional. Während es in anderen Kulturen selbstverständlich ist, dass die ganze Familie unter einem Dach lebt, entsteht in unserer westlichen, globalisierten Welt mitunter eine große räumliche Distanz zwischen den Generationen einer Familie.

Es gibt da Menschen im Großelternalter, die aktiv sein und einer sinnstiftenden Beschäftigung nachgehen wollen. Die vielleicht auch ihre leiblichen Enkel vermissen. Und die in dem Verein einen Raum haben, in dem sie auf Kinder treffen, die sich nach der Ruhe und Toleranz, auch nach dem Rat einer Oma oder eines Opas sehnen. Deren leibliche Großeltern entweder weit weg wohnen oder nicht mehr leben. Nicht nur die Kinder profitieren davon, etwa wenn die Wunsch- oder Wahlgroßeltern manch verborgenes Talent entdecken und fördern. Die Großeltern werden wirklich gebraucht. Es entstehen auf beiden Seiten nicht ersetzende, sondern zusätzliche Beziehungen. Und im besten Falle wird dann die „Wahlverwandtschaft“, von der auch Frau Hoyme gerne spricht, wiederum zu einer nicht zu ersetzenden Verbindung zwischen Menschen, die sich sonst nicht begegnet wären. Dazu braucht es die Einrichtung des Vereins, dazu braucht es Ehrenamtler, die sich engagieren.

René Müller-Ferchland wurde 1984 in Magdeburg geboren und studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Er ist freischaffender Autor und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Schriftstellerinnen und Schriftsteller Thüringen. Bisher erschienen drei Romane, 2024 wurde er mit einem Literatur-Arbeitsstipendium der Kulturstiftung Thüringen ausgezeichnet.